Neoplatonisme – sporen bij Theresia van Avilla en Johannes van het Kruis

Bernhard Teuber, Zur Frage des Neuplatonismus in der Dichtung der spanischen Mystik

In: 

Schildknecht, Christiane, Teichert, Dieter (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt am Main 1996, (Suhrkamp), p. 230-256

Man mag es einem Philologen nachsehen, dass er eine doppelte Reduktion des angekündigten Themas vornimmt. Die erste Einschränkung betrifft mein Verständnis des Platonismus oder auch des Neuplatonismus, da unterscheide ich nämlich nicht streng. Solche Nonchalance dürfte bei zünftigen Philosophen Stirnrunzeln auslosen, es sei denn, diese hätten sich mit dem Thema sehr eingehend beschäftigt. Dann konnte es ihnen vielleicht ähnlich ergehen wie mir: Man sieht den Wald vor lauter Baumen nicht. So habe ich mich zum Quereinstieg entschieden mit Hilfe eines Tricks, den ich dem Scholarchen oder Schulhaupt der Akademie abgeschaut habe: Platon läßt im Symposion den Pausanias eine Unterscheidung zwischen dem himmlischen und dem gemeinen Liebesgott treffen, zwischen dem ουράνιος Έρως und dem πάνδημος  Έρως. 1 Man weiß, was vom letztgenannten zu halten ist. – Nichtsdestoweniger werde ich mich im folgenden auf etwas ganz ähnliches berufen müssen, nämlich auf die gemeine Akademie, die, πάνδημος  Άхαδήμεια wohl wissend, dass es daneben auch eine himmlische Akademie, eine ουράνία Άхαταδήμεια, gibt oder zumindest geben konnte. Ich wende also einen bloß gemeinen oder Allerweltsbegriff des Platonismus an, bei dem es auf genaue Merkmalzuweisungen und die Unterscheidung einzelner Phasen gar nicht weiter ankommt, denn ich will ja damit bis ins 16. Jahrhundert vordringen. Die Lesetechnik, über die ich diesen Allerweltsplatonismus zu rekonstruieren und das heißt erst einmal mir anzueignen suche, ist dem: schwachen Denken wohl angemessen, das mein Konzept verrat. Es ist das Zapping oder besser gesagt sein unvollkommenes Schattenbild, sozusagen sein είδωλον im Medium der Buchkultur.

Allerdings bin ich, um auf den Jargon der Schau zurückzuschalten, nicht verkabelt and nur an wenige Kanäle angeschlossen: Es sind die Antike mit Platon und auch noch Plotin; die Spätantike mit Boethius und Dionysius Areopagita; die italienische Renaissance mit Marsilio Ficino und dem Erotikprogramm eines Leone Ebreo oder Baldassare Castiglione. Während bestimmter Sendezeiten ist mein Empfänger nicht eingeschaltet, beispielsweise während des ganzen Mittelalters. Möglicherweise wird auch bezweifelt, dass Dionysius überhaupt in diese Programmsparte passt, und gefragt, ob er nicht auf andern Sendern immer unter dem Titel Pseudo läuft. Dazu nur soviel: Wer auf den Pseudo-Titel des Areopagiten Wert legt, müsste ihn konsequenterweise auch Leuten wie Voltaire oder Stendhal andienen, die schrieben gleichfalls unter Pseudonym. Die zweite Reduktion betrifft den zweiten Teil meines Titels: Wenn ich von mystischer Dichtung in Spanien spreche, dann möchte ich mich im folgenden ausschließlich auf ein Autorenpaar, eine Lehrerin und ihren erheblich jüngeren Schüler, beziehen, die an prominenter Stelle in der spanischen Literaturgeschichte figurieren, nämlich Teresa von Avila (1515-1582) und Johannes vom Kreuz (1542-1591), auch bekannt unter ihren spanischen Namen als Santa Teresa de Jesus und San Juan de la Cruz. Es handelt sich um zwei charismatische Gestalten des 16. Jahrhunderts, eine Nonne und einen Mönch, später heiliggesprochen, die gemeinsam im Spanien Philipps II. und gegen innerkirchliche Widerstande die Reform oder besser gesagt die Neugründung des Zweigs der Unbeschuhten Karmeliten durchgesetzt haben. Das gesteckte Ziel war ein geistliches, die Erneuerung des religiösen Lebens aus einer inneren Erfahrung heraus: Die Seele solle alles Äußerliche hinter sich lassen und sich ganz und gar Gott hingeben, da er allein ihr unendliches Begehren werde stillen können. Für dieses Programm suchten Teresa, Johannes und ihre Mitstreiter ein Publikum zu begeistern und wohl auch zu schaffen, sowohl unter Ordensleuten als auch unter Laien. Als ein geeignetes Instrument hierfür erwies sich die Literatur: die Autobiographie der Ordensgründerin; mystagogische Traktate; ein relativ schmales Corpus von Gedichten, die sehr oft zum Singen bestimmt waren. Wir haben uns angewöhnt, diese Gedichte mystisch zu nennen; jedenfalls modellieren sie plastisch Erfahrungen der nach Gott dürstenden Seele und welchen gleichzeitig den Bedarf nach ebenden Erfahrungen, die sie beschreiben: es sind Verführungsreden voll erotischer Bilder. Die mystische Dichtung ist in den Kanon der spanischen Literatur eingegangen, und ich werde auf einige Beispiele  zurückkommen. Die genannten Autoren sind in Spanien relativ populär, auch nach Francos Tod. Es gibt allerdings kaum ansprechende Übersetzungen ins Deutsche. Meine Ausführungen werden vielleicht auch darüber Aufschluss geben, warum eine Übertragung so überaus schwierig ist.2

  1. Neuplatonismus als Realität und Problem

Dass sich die Renaissance als Epoche durch die enthusiastische Wiederbelebung eines platonischen Diskurses definiert, ist ein Gemeinplatz, der auch für Spanien gilt. Platonisches Gedankengut wurde zu einem festen Bestandteil des kulturellen Wissens. Es prägte vor allem die zeitgenössische Auffassung der Liebe. 3 Von Italien her rezipierte man gewiss Ficino, vor allem aber die Dialoghi d’Amore des Leone Ebreo (geschrieben um 1502, Erstdruck in Rom 1535) und die Lehrrede des Pietro Bembo über die Liebe im Schlussteil des vierten Buchs des Cortegiano yon Baldassare Castiglione (1528). Juda Abarbanel alias Leone Ebreo war selbst sephardischer Jude und 1492 aus Spanien vertrieben worden. Das schmälerte nicht die Wirkung seines Werks auf das spanische Publikum. Seine italienisch geschriebenen Dialoghi wurden 1564 ins Lateinische und zwischen 1568 und 1590 allein dreimal ins Spanische übertragen, zuletzt vom Inca Garcilaso de la Vega; aber bis in die Zeit des Cervantes hinein las man den Autor auch gern im Original. Der Cortegiano des Castiglione war schon 1534 von Juan Boscan ins Spanische übersetzt worden. Manch weiteres wird hinzugekommen sein. Insgesamt dürften sich die Quellen, aus denen sich das neuplatonische Denken und Reden im Spanien der Renaissance speiste, kaum weniger buntscheckig und eklektizistisch darstellen, als ich es zu Eingang meiner Ausführungen  ankündigte. Die ganz unterschiedlichen Autoren und Texte neben- oder gar ineinander zu lesen erweist sich demnach nicht nur als der Notbehelf des Interpreten, sondern auch als ein getreues Spiegelbild der Rezeptionsverhältnisse, die für das damalige Spanien maßgeblich waren.

Die petrarchistische Liebesdichtung, dann auch das Drama des Goldenen Zeitalters griffen neuplatonische Konzepte begierig auf – meist freilich weniger im denkerischen Vollzug als in Form einer spielerischen Rhetorik, aus der reizvolle Metaphern, Vergleiche oder Überredungsstrategien bezogen worden. Auch daraus läßt sich immerhin erschließen, dass der Horizont neuplatonischen Wissens nahezu allgegenwärtig war. Die beiden wichtigsten neuplatonischen  Dichter der spanischen Renaissance sind zweifelsohne Fray Luis de León (ca. 1527-1591) und der oft zu wenig   beachtete Francisco de Aldana aus Neapel (1537-1578). Aldana verfasst tiefsinnige Lehrgedichte, beschreibt aber in manchen Sonetten auch Szenen höchster erotischer Intimität und legt sie auf die neuplatonische Liebeslehre hin aus. Fray Luis orientiert sich in seiner Lyrik am Vorbild des Horaz, präsentiert aber darin immer wieder Inhalte eines christlichen Neuplatonismus. Das dichterische Anliegen des Fray Luis ist vielleicht mit dem des Boethius zu vergleichen: eine glänzende Gedanken- und auch Trostlyrik, der es um die formal perfekte Vermittlung einer vorgegebenen philosophischen Doktrin zu tun ist. Wie Boethius saß auch Fray Luis im Gefängnis. Gott sei Dank ist er aber nicht wie jener darin gestorben, sondern rehabilitiert worden. 

Vor diesem Hintergrund braucht es niemanden zu verwundern, dass auch die mystischen Autoren der Renaissance den zeitgenössischen  Neuplatonismus kannten und aus ihren Texten sprechen ließen. Doch hatten die Mystiker darüber hinaus Anteil an einer weit umfassenderen Tradition, die über Dionysius vom Areopag bis zu Plotin, ja bis zu Platon zurückreichte. Die Beurteilung des neuplatonischen Einflusses auf die spanische Mystik geriet allerdings zu einem Problem, das sowohl forschungsgeschichtliche als auch philosophische Wurzeln hat. Im Brennpunkt dieser Debatte steht nicht zufällig Johannes vom Kreuz, der doctor mysticus хατ҆ έξοχην dessen Denken oftmals vielschichtiger und voraussetzungsreicher ist als das der Teresa. Gerade darum stellt sich bei Johannes vom Kreuz die Einflussfrage mit um so größerer Dringlichkeit. Strittig sind in der Forschung die verschiedenen Traditionslinien, die sich in seinen Schriften verbinden. Ein weitgehend unproblematischer Weg führt über die direkte Lektüre der areopagitischen Schriften und weiterer Kirchenlehrer oder über die rheinisch-flämische Mystik mit Autoren wie Tauler, Ruusbroec und Thomas von Kempen, die in Spanien höchst populär waren. Daneben aber werden immer wieder Bedeutung und Ausmaß des jüdischen sowie islamischen Erbes diskutiert, das im Spanien des 16. Jahrhunderts überaus virulent gewesen sein muss.

In jüngerer Zeit konnten vor allem L. López Baralt (im Anschluss an die Untersuchungen von M. Asín Palacios) sowie C. Swietlicki erstaunliche Anleihen der spanischen Mystiker beim Sufitum und bei der Kabbala aufzeigen.4 Diese Parallelen lassen sich gewiss in jedem Einzelfall, nicht aber allesamt aus rein zufälligen Übereinstimmungen erklären. Dass die genannten Forscher bislang keine genauen Filiationen nachzuzeichnen vermochten, darf nicht als Argument gegen sie verwendet werden. Die monastische Kultur des 16. Jahrhunderts war sowohl von der Mündlichkeit als auch vom Medium der Handschrift geprägt. Die mündliche Überlieferung ist für uns heute unsichtbar geworden, und viele handschriftliche Zeugnisse wurden im Zuge der strenger werdenden Zensur bereits im 16. Jahrhundert oder später vernichtet. So bleiben möglicherweise als einzige Zeugnisse eines verschlungenen Rezeptionsprozesses die offenkundigen  Berührungspunkte zwischen spanischer Mystik einerseits und den Lehren der Sufis oder der Kabbalisten andererseits. In ihrer eindrucksvollen Häufung erbringen diese Indizien einen  augenscheinlichen Beweis dafür, dass von einer Beeinflussung auszugehen ist, obwohl genaue Vermittlungsstufen nicht mehr zu rekonstruieren sind. 

Zu selten wurde bislang gefragt, warum das Gedankengut jüdischer Kabbalisten oder islamischer Sufis relativ mühelos von christlichen Autoren assimiliert werden konnte. Ein maßgeblicher Grund hierfür liegt zweifelsohne darin, dass alle drei Buchreligionen des Mittelmeerraums über Jahrhunderte hinweg mit dem Diskurs des Neuplatonismus koexistiert hatten, der von Haus aus weder jüdisch noch christlich noch islamisch war und dennoch alle drei Religionen tiefgreifend beeinflusste. Erst der Neuplatonismus gab jenes diskursive Fluidum ab, innerhalb dessen jüdische, christliche und islamische Geheimlehren ineinander übersetzbar, miteinander vergleichbar oder gar kompatibel wurden.

Wenn ich darum im folgenden vorrangig den Zusammenhang zwischen der spanischen Mystik und zwei klassischen Repräsentanten  des griechischsprachigen Neuplatonismus, nämlich Plotin und Dionysius, herausstreichen werde, dann schließe ich keineswegs aus, dass daneben auch jüdische oder islamische Überlieferungen von Belang gewesen wären, sondern ich gehe zu jenen Quellen zurück, die auch einem solchen sekundären Einfluss noch voraufliegen und ihn darum überhaupt erst ermöglicht haben. Bekanntlich sind einige Traktate Plotins ins Arabische übersetzt worden, und im maurisch beherrschten, weithin arabischsprachigen Spanien des Mittelalters sind bezeichnenderweise die frühesten kabbalistischen Traktate entstanden. Plotins Bedeutung sowohl für die islamische als auch für die jüdische Mystik kann schwerlich überschätzt werden.

Es war J. Baruzi, der 1924 in seiner grundlegenden Untersuchung über Saint Jean de la Croix et le Problème de I’expérience mystique erstmals in einigen Bereichen auffällige Parallelen zwischen der Lehre des Plotin und des Johannes vom Kreuz aufzeigte, ohne damit auch eine direkte Kenntnis zu präjudizieren. Forschungsgeschichtlich war Baruzis Interpretation um die Mitte der 1920er Jahre ein Novum, theologisch eine Provokation. Denn die Grenze zwischen heidnischem Platonismus and Christentum, zwischen paganem und christlichem Neuplatonismus schien scharf gezogen. Baruzi aber behauptete, dass sich am Beispiel des Verhältnisses von Plotin zu Johannes vom Kreuz eine Trennungslinie gar nicht so klar markieren lasse. Besondere Brisanz gewann Baruzis Deutung im kulturellen Umfeld der 1920er Jahre. In diese Zeit fallen maßgebliche und eindrucksvolle Ansätze, die spanische Kultur des Goldenen Zeitalters insgesamt neu zu lesen – nicht mehr als einen monolithischen Block, sondern als eine heterogene und auch heterodoxe Vielfalt von Diskursen.5 Johannes vom Kreuz, der 1926 offiziell zum Kirchenlehrer proklamiert werden sollte, wurde fast zeitgleich von Baruzi zu einem Wortführer des heterodoxen, des Andern Spanien ausgerufen. Insofern war Baruzi ein würdiger Nachfolger des modernistischen Theologen A. Loisy auf dem Lehrstuhl für Religionsgeschichte am Collège de France. Ganz unabhängig von der kulturpolitischen Konjunktur der 1920erjahre hat Baruzi in seiner grundlegenden Intention recht behalten: Die Wechselbeziehungen zwischen dem außer christlichen und dem christlichen Platonismus sind enger, als man sich dies lange Zeit eingestehen wollte. Wir würden heute beide Richtungen weniger als gegensätzlich zueinander denn als Varianten voneinander verstehen, also die Opposition zwischen ihnen dekonstruieren. Das christliche Denken ist ohnehin erst spät und keineswegs überall eine Ehe mit dem aristotelischen Thomismus eingegangen. Außerhalb davon liegt ein – zum Teil unerforschter – Kontinent, zu dem gerade die mystische Literatur gehört.

Über das Gesagte hinaus hat Baruzis Deutung eine philosophische Dimension. Er vertritt einen emphatischen Begriff der mystischen Erfahrung, den er sowohl bei Johannes vom Kreuz als auch in Plotins Konzept der Schau wiederfindet, den er aber maßgeblich im Bann von Bergsons lebensphilosophischem Intuitionsbegriff entwickelt haben durfte. Baruzi zufolge gipfelt die mystische Erfahrung bei Johannes vom Kreuz letztendlich in einem noetischen Akt, der es ihm gestattet, Gott und in Gott die Welt zu erkennen – nicht im andeutenden Bild, sondern im Begriff selber: »Définitif échec de l’image, triomphe de la notion. Notion de Dieu et non des choses.«6 – >Endgültige Niederlage des Bildes, Triumph des Begriffs. Erkenntnis Gottes und nicht der Dinge.<

Die plotinische έπιστροφή aus der Vielheit der Bilder zur vollkommenen Einfachheit des Einen wäre damit Wirklichkeit geworden. Ein sicheres Kennzeichen für die Unmittelbarkeit und die Authentizität der Erfahrung ist laut Baruzi die Sprache. Diese kann nur dann angemessener Ausdruck der mystischen Erfahrung werden, wenn sie sich des Symbols bedient:

»Un symbole mystique, qui n’arrive pas à nous faire percevoir, même dans le rythme des images, la profondeur de l’expérience, n’est qu’un pseudosymbole. Le vrai symbole adhère à l’expérience. Il n’est pas la figure d’une expérience.“7

Das Symbol ist für Baruzi weder figure (Figur) noch image (Bild), sondern die Utopie eines Ausdrucks, der selbst schon anfanghaft Anteil besitzt an dem, was er bezeichnet. Im Symbol ist das Symbolisierte  präsent, die semiotische Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat ist getilgt – das heißt platonisch gesprochen, dass das είδωλον im παράδειγμα, das Abbild im Urbild aufgegangen ist. Das mystische Symbol ist demnach für Baruzi differenzlos, um nicht zu sagen differenzvergessen. 

Den bedeutendsten Gegenentwurf zu Baruzis oben genannter Studie stellt die Kreuzeswissenschaft der Karmelitin Edith Stein dar, ein Buch, das wegen des Abtransports der Verfasserin 1942 nach Auschwitz als Fragment schließt. Von einer phänomenologisch geprägten Position aus problematisiert und verschiebt E. Stein Baruzis Symbolkonzeption. Dem scheinbar unmittelbaren Symbol stellt sie das Kreuz als ein Wahrzeichen gegenüber, welchem Bedeutung in seiner Geschichte zuwächst, so dass es weder willkürliches Zeichen noch differenzloses Symbol ist.8 Dementsprechend führt E. Stein in ihre Interpretation als zentrale Kategorien das Kreuzesopfer und die Selbsthingabe des Liebenden ein, die bei Baruzi keine Rolle gespielt hatten. Unter dem Firnis einer poetischen Symbolsprache macht sie in ihrer phänomenologisch bestimmten Lektüre des Textes eine radikal erotisierte Erfahrung des Kreuzes sichtbar, deren ascetische Austerität mit dem lebensphilosophischen Konzept einer emphatischen Erfahrung bei Baruzi kaum mehr vermittelbar ist.

Aus einer theologischen Perspektive valorisiert E. Stein das unübersehbar christliche Element bei Johannes vom Kreuz. Aber dieses selbst ist wiederum aufs engste mit der platonischen Tradition verknüpft, freilich nicht mit deren plotinischer, sondern mit konkurrierender areopagirischer Variante. Zur Vorbereitung ihrer Kreuzeswissenschaft hatte E. Stein eingehend den Dionysius  studiert und ihm eine kleine Monographie gewidmet.9 In deren Mittelpunkt steht bezeichnenderweise die Analyse seiner symbolischen Theologie. Das theologische Symbol kann laut dem Dionysius niemals  mit dem göttlichen Geheimnis koinzidieren das es bezeichnet. Ihm bleibt. die Differenz dazu stets eingezeichnet, kraft deren es eher verhüllt denn enthüllt. Ja, die unüberbrückbare Differenz zum Gemeinten macht erst eigentlich die Identität des theologischen Symbols aus. Es ist damit diametral dem mystischen Symbol entgegengesetzt, das Baruzi bei Johannes vom Kreuz entdeckt hatte.

Die beiden divergierenden Lesarten der Schriften des doctor mysticus durch Baruzi und E. Stein besitzen ihr Korollar offenkundig in gegensätzlichen semiotischen Voraussetzungen: Baruzi optiert für eine differenzlose Semiotik des mystischen Symbols; E. Stein geht von der differentiellen Struktur des areopagitischen Symbols aus. Der eine beruft sich auf Plotin, die andere auf Dionysyus vom Areopag. Er liest mit den Augen Bergsons; sie liest mit den Augen Husserls. Das in dieser Debatte aufgeworfene Problem jedoch hat im Horizont unserer eigenen Gegenwart nichts von seiner philosophischen Aktualität eingebüßt, und es bleibt auch weiterhin mit der Frage des Neuplatonismus verknüpft. Ist ein Symbol ohne semiotische Differenz überhaupt zu haben? Und selbst wenn dem so wäre, ist ein differenzloses Symbol dann im neuplatonischen Kontext denkbar? Während der vergangenen Jahre hat W. Beier in seinen Arbeiten zu heidnischen wie zu christlichen aufgewiesen, wie dort der Widerstreit von Identität und Differenz nicht etwa übergangen, sondern durchgearbeitet und in seiner Bezogenheit auf das Prinzip des Einen gedacht wird.10  Auf der Grundlage dieser differenzbewussten Neulektüre des platonischen Tradition geht er so weit, Heideggers pauschale Kritik der abendländischen Metaphysik als seins- und differenzvergessen in Zweifel zu ziehen. Beierwaltes sieht Heideggers diesbezügliches Grundanliegen in der philosophischen Reflexion der Neuplatoniker auf die Differenz des Einen zum Sein seit bald zwei Jahrtausenden verwirklicht und betrachtet damit Heideggers Behauptung als widerlegt, die philosophische Reflexion seit Platon habe per se die Differenz vergessen.11

Ob man das bewusste Denken der Differenz bei den Neuplatonikern überhaupt noch unter der Kategorie der Metaphysik subsumieren will. die dann freilich in einem sehr viel weiteren Sinn als bei Heidegger zu verstehen wäre, oder aber nicht, ist letztlich eine terminologische Entscheidung. Jedenfalls nimmt der Sache nach J. Derrida mittlerweile eine mit Beierwaltes vergleichbare Position ein. In seinem in Jerusalem gehaltenen Vortrag Comment ne pas parler untersucht er Erscheinungsformen des Apophantischen bei Platon, Dionysius, Meister Eckhart und Heidegger. Derrida benennt unbestreitbare Divergenzen zwischen diesen – in sich durchaus unterschiedlichen – Paradigmen des Denkens und dem seinigen. 12 Aber nichtsdestoweniger betrachtet Derrida die herangezogenen Entwürfe offenbar als historisch je eigenständige Varianten einer weit umfassenderen Denkbewegung der Dekonstruktion überhaupt. Er schlagt sie damit zweifelsohne der  Metaphysikkritik zu, deren Vorgeschichte dann koextensiy wird zur Geschichte der Philosophie überhaupt. In eine ähnliche und dennoch gegensätzliche Richtung zielen auch die stimulierenden Untersuchungen von J.-L. Marion, der in seinem Buch Dieu sans l’être eine  metaphysikkritische Gotteslehre auf der Grundlage der areopagitischen Theologie entworfen hat.13

Es ist nun an der Zeit, die mystischen Gedichte selbst zu Wort kommen zu lassen und an ihnen die gegensätzlichen Meinungen in bezug auf sie zu überprüfen. Wir werden dazu einzelne Stellen auswählen, an denen sich semiotische Fragestellungen thematisieren und zwanglos in einen neuplatonischen Zusammenhang einrücken lassen.

II. Teresa von Avila im Portrait

Zunächst mochte ich den ersten Teil des vielleicht bekanntesten Gedichts der Teresa von Avila vorstellen. Es stammt aus dem Jahr 1577 und ist durch seinen Refrain strukturiert, der auch Thema eines poetischen Wettstreits war, wie sie in Avila üblich waren. Es handelt sich bei diesem Text um ein Liebesgedicht. Den Sprecher haben wir uns demnach als Liebenden zu denken, der sich an seine Dame wendet und diese als >Seele< tituliert.14


Alma buscarte has en mí

y a mí buscarme has en ti


De tal suerte pudo amor

alma en mi te retratar

que ningún sabio pintor

supiera con tal primor

tal imagen estampar


Fuiste par amor criada

hermosa bella y ansí

en mis entrañas pintada

si te pierdes mi amada

alma buscarte has en mí


Que yo sé que te hallarás

en mi pecho retratada

y tan al vivo sacada

que si te ves te holgarás

viéndote tan bien pintada.


[Seele, suche dich in mir,

und mich suche du in dir.


Auf solche Weise vermochte die Liebe,

oh Seele, dich in mir zu portraitieren,

dass kein noch so begabter Maler

mit solcher Meisterschaft

ein solches Bild drucken könnte.


Geschaffen wurdest du aus Liebe,

wohlgestaltet, schön und ebenso

in meinen Eingeweiden gemalt;

wenn du dich verlierst, Geliebte,

Seele. suche dich in mir.


Denn ich weiß: du wirst dich finden

auf dem Portrait in meiner Brust,

so lebensecht getroffen,

dass es dir Vergnügen bereiten wird, dich zu sehen,

weil du dich dann so gut gemalt siehst.]


Es sei darauf hingewiesen, dass spanisch amor in der Übersetzung sowohl >Liebe< als auch die Personifikation des Liebesgottes Amor bedeuten kann. Für gewöhnlich wird das Gedicht so verstanden, dass hier Gott oder Christus als Sprecher auftritt und die menschliche Seele anruft, die seine Geliebte ist. Allerdings ist diese Lesart keineswegs zwingend. Das Wort alma. (>Seele<) muss nicht verbum proprium zur Bezeichnung der Seele sein, denn es ist bis heute einer der gebräuchlichsten Kosenamen der spanischen Liebessprache geblieben. Zumindest auf einer ersten Ebene läßt sich das Gedicht rein profan verstehen, und sein ästhetischer Reiz besteht darin, dass es so verstanden werden kann und soll. Die Interpretation des Gedichts wird nun in drei Stufen erfolgen.

1. Stufe: Der Sprecher tut seiner Geliebten kund, dass sie ihr Portrait stets in seinem Herzen finden wird, falls sie sich selber einmal verlieren sollte. Grundlage dieser Argumentation ist demnach die Vorstellung aus der Amorlehre, derzufolge der Liebesgott aus den Augen der Dame Pfeile verschießt, die bis in das Herz des Liebenden dringen, und derzufolge sich im Herzen auch das Portrait der Geliebten einzuprägen pflegt. Im zweiten Teil des Gedichts, den wir hier nicht zitieren und der wiederum aus drei Strophen besteht, erfolgt dann die Umkehrung: Der Sprecher belehrt seine Geliebte darüber, dass auch sie ihn stets in sich selbst suchen und dort sicher finden könne. Als Voraussetzung hierfür ist wiederum anzunehmen, dass Amor auch im Herzen der  angesprochenen Dame ein Portrait ihres Geliebten gemalt hat. Wir haben es mit jener vollkommenen Wechselseitigkeit der Liebe zwischen dem Sprecher und seiner Dame zu tun, die Ficino den amor mutuus nennt. Er führt dazu, dass der Liebende nicht nur ein Bildnis des Geliebten in seine Seele meißelt, sondern dass er sich auch in den Geliebten zu verwandeln sucht und umgekehrt. 15 Castiglione erwähnt denselben glühenden Wunsch des Liebenden nach Verwandlung in den andern.16 Leone Ebreo schildert den Sachverhalt folgendermaßen:

»La propria diffinizione del perfetto amore de l’uomo e de la donna è la conversione de l’amante ne l’amato, con desiderio che si converti l’amato ne l’amante. E quando tal amore è eguale in ciascuna de le parti, si diffinisce conversione de l’uno amante ne l’altro.”17

Ein weiteres neuplatonisches Element läßt sich ausfindig machen. Es ist das Begriffspaar von Urbild und Abbild oder Stempel und Abdruck. Die Worte retrato (>Portrait<) und imagen (>Bild<) gehören zum Bereich des μίμημα, das nach dem Vorbild einer höherstehenden Wirklichkeit angefertigt ist und eine Nachbildung davon wiedergibt. Das Verbum estampar (>drucken<) ist hier durchaus Terminus technicus und verweist auf den τύπος, den Abdruck des Originals, der beim Portraitieren entsteht. Der Maler des Bildnisses ist Amor selbst. Er wird gewissermaßen in Analogie zur Rolle des δημιουγος aus dem Timaios begriffen, von dem es heißt, er habe die Welt als eixoov, als Abbild, eines παράδειγμα, eines Urbildes, gefertigt.18 Amor erweist sich als ein so begabter Maler, dass in seinem lebensechten Portrait die Geliebte vollkommen getreu abgebildet ist: y tan al vivo sacada ->und so lebensecht getroffen<.

Auf der profanen Ebene läßt sich unser Befund folgendermassen zusammenfassen: Die Geliebte ist das Urbild. Das Portrait im Herzen des Liebenden aber ist das Abbild. Amor ist der δηιουργος, der die Übertragung des Urbilds aufs Abbild ausführt – und zwar auf so vollkommene Weise, dass sich das Abbild dem lebensechten Urbild selbst anzunähern scheint. Die Differenz zwischen dem Urbild und dem Abbild wird also dekonstruiert – und zwar nach der Seite des Urbildes hin: Das Abbild ist (fast) so gut und lebensecht wie das Urbild. Diese Dekonstruktion geschieht im Rückgriff auf das neuplatonische Philosophem des amor mutuus

2. Schritt: Die Verhältnisse gestalten sich komplizierter, wenn wir den Text des Gedichts a lo divino – >nach göttlicher Art< – lesen, wie man auf spanisch sagt. Dann tragt nämlich der Sprecher, also Gott, in sich das Portrait, das Abbild, der menschlichen Seele. Genau dies muss allerdings einem landläufigen Verständnis des christlichen Neuplatonismus zuwiderlaufen. Gewiss kann man sich mit Boethius vorstellen, dass in Gott als dem höchsten Gut alle Dinge als exempla. schon vorgebildet sind, einschließlich der menschlichen Seele. Die göttliche Güte kennt damit die exempla alles Seienden, und sie formt die Welt und die Seelen als deren imagines. 19. Die Ordnung dieser kreisförmigen Bewegung ist jedoch vorgegeben: Es ist die πρόοδος, die emanatio, die vom Einen zur Vielheit, vom göttlichen Urbild zum irdischen Abbild herabsteigt, um dann als έπιστροφή, als conversio, wieder dorthin zurückzukehren. An eine Abhängigkeit des Urbilds von seinem Abbild ist in diesem Modell freilich nicht gedacht. Anders in unserem Gedicht: Hier wird das, was eigentlich Urbild sein müsste, seinerseits als Abbild oder Portrait eines Andern modelliert. Nicht nur ist das Urbild der Seele in Gott nunmehr einem äußeren Abbild nachgezeichnet, sondern der Schöpfergott selber erscheint als ein Porträtmaler, der nicht d’après nature arbeitet, sondern eine Kopie abmalt. Die überraschende Gleichsetzung Gottes mit einem Maler rührt daher, dass bei einer konsequent theologischen Lesung des Textes Amor schwerlich ein platonischer δημιοργός bleiben kann. Vielmehr muss er dann als Manifestation der Gottheit selbst verstanden werden, beispielsweise als die Person des Heiligen Geistes. Die christliche Vergottung Amors ist an sich nicht ungewöhnlich. Schon Dionysius hat die neuplatonische Liebeslehre dergestalt überschrieben, dass er Έρως als einen der legitimen Gottesnamen ausweisen kann.20

Auf der Ebene a lo divino läßt sich unser Befund folgendermaßen zusammenfassen: Die Geliebte ist das Abbild. Das Portrait im Herzen des Liebenden ist das Urbild. Amor ist eine göttliche Person, welche die Übertragung vom Abbild auf das Urbild ausführt – und zwar in so vollkommener Weise, dass sich das Urbild dem lebensechten Abbild selbst anzunähern scheint. Die Differenz zwischen dem Abbild und dem Urbild wird also dekonstruiert – und zwar nach der Seite des Abbildes hin: Das Urbild ist fast so gut und lebensecht wie das Abbild. Diese Dekonstruktion kann meines Erachtens nicht mehr im Rückgriff auf ein neuplatonisches Philosophem gelesen werden. Aber sie verwendet neuplatonische Philosopheme als das Material eines bricolage. Mit ihrer Hilfe wird dann etwas formuliert, was sich im Sprachspiel des Neuplatonismus an sich weder denken noch formulieren ließe. Die Differenz zwischen Urbild und Abbild wird nicht einfach getilgt, sondern es wird an ihr etwas gezeigt. Gezeigt wird nämlich, dass das Urbild selbst als Abbild eines Anderen gedacht werden kann. 

3. Stufe: Bislang sind die Aussagen der profanen Ebene und der religiösen Ebene a lo divino kontradiktorisch aufeinander bezogen.  Wir können aber über diese Antinomie hinausgelangen, wenn wir die rhetorische Struktur des Textes berücksichtigen. Das Gedicht ist eine Liebesallegorie. Es sagt die profane Liebesrede des Sprechers zu seiner Dame auf, aber es meint damit etwas anderes, nämlich die Rede Gottes zur Seele. Wenn wir den allegorischen Charakter des Textes ernst nehmen, dann müssen wir alles Gesagte stets in einem uneigentlichen Sinne nehmen. Somit läßt sich auch die Rede von Urbild und Abbild in allegorischer Verschränkung lesen. Wir können demnach sagen, dass im Text das Abbild stets als eine Allegorie für das Urbild und das Urbild stets als eine Allegorie für das Abbild steht. Das heißt aber dann. Dass weder über das Abbild noch über das Urbild etwas in  eigentlichen Worten ausgesagt ist. Beides wird immer nur im Gewand des jeweils andern besprochen. Was aber ist das tertium comparationis, welches Urbild und Abbild miteinander gemeinsam haben und welches es ermöglicht, das eine als Allegorie des andern zu setzen? Es ist die Differenz, die zwischen beiden waltet und die das Gedicht der Teresa von Avila auf eine abgründigere Weise zu denken gibt als der Neuplatonismus, dem sie ihre Kategorien entlehnt hat. 

III. Johannes vom Kreuz im Spiegel

Mit unserem nächsten Fallbeispiel kommen wir zum Cántico espiritua. l (>Geistlicher Gesang<) des Johannes vom Kreuz: ein vierzigstrophiges, wiederum zum Singen bestimmtes Gedicht, dessen erster Teil während eines Gefängnisaufenthalts des Autors 1577/78 in Toledo entstand. Die Sprecherin ist eine Liebende, die auf der Suche nach ihrem Geliebten eine bukolische Landschaft durchstreift. Ihre gesamte Rede ist der Ausdruck des Liebesdeliriums, dem sie verfallen ist. Im späteren Verlauf des Textes meldet sich dann der Geliebte zu Wort. Dem Leser bleibt die Entscheidung überlassen, ob sich das Paar wirklich gefunden hat oder ob die Frau inzwischen Stimmen hört. Wie im vorangegangenen Gedicht gilt auch diesmal das Paar als allegorische Verkörperung Gottes und der menschlichen Seele. Die folgenden Strophen schildern den Augenblick, als die Sprecherin außer sich vor Sehnsucht den Geliebten beschwort, sich ihr endlich zu zeigen, und dann an eine Quelle tritt, in die sie hineinblickt:21


  Descubre tu presencia

y máteme tu vista y hermosura

  mira que la dolencia

  de amor que no se cura

sino con la presencia y la figura


  ¡O cristalina fuente!

si en esos tus semblantes plateados

  formases de repente

  los ojos deseados

que tengo en mis entrañas dibujados


  Apártalos amado

que voy de vuelo  vuélvete paloma

  que el ciervo vulnerado

  por el otero asoma

al aire de tu vuelo y fresco toma.


  [Enthülle deine Gegenwart,

und töte mich auch dein Blick und deine Schönheit,

  bedenke, dass man das Leid

  der Liebe nicht heilen kann,

es sei denn durch die Gegenwart und das Angesicht.


  Oh kristallene Quelle,

wenn du auf diesen deinen silbernen Gesichtszügen

  plötzlich formen konntest

  die ersehnten Augen,

die ich in meinen Eingeweiden eingezeichnet trage!


  Wende sie ab, Geliebter,

denn ich komme im Fluge.  Drehe dich um, Taube,

  der versehrte Hirsch

  zeigt sich oben am Hügel

im Winde deines Fluges und schnappt frische Luft.]


Den drei Strophen läßt sich in etwa der folgende Geschehnisverlauf zuordnen: Erstens: Die Sprecherin fordert den Liebenden auf, seine Gegenwart zu zeigen, selbst wenn sie durch seinen Anblick sterben müsste. Der tödliche Blick des oder der Geliebten ist ein üblicher Topos der Liebesdichtung. Das Liebesleid der Sprecherin kann nur durch die Anwesenheit und den Blick auf das Gesicht des Geliebten geheilt werden. >Gesicht< ist die vorläufig Nächstliegende Bedeutung des ‘Wortes figura. Zweitens: Die Sprecherin ist nunmehr an die Quelle getreten, die sie anruft. Sie wünscht, dass der Geliebte hinzutreten und sich in der Quelle spiegeln möge. Dann könnte sie das Spiegelbild des Geliebten, das sie schon längst im Herzen tragt, auch in der Quelle wiedererkennen. Die Spiegelung wäre ihr Beweis für die Anwesenheit des Geliebten. Drittens: Im Dazwischen der beiden Strophen ist der Geliebte vielleicht tatsächlich hinzugetreten. Beim Anblick seines Spiegelbildes gerät die Sprecherin in eine Ekstase, die sie nicht ertragen kann. Vuelo (>Flug<) darf hier als einschlägiger Begriff – auch der Liebessprache – angesehen werden. Sie fleht darum den Geliebten an, die Augen wieder abzuwenden – gemeint ist wohl nicht von ihr selbst, sondern von der Quelle, durch deren Reflex sie von seinem Spiegelbild angeblickt wird. Sodann hört die Frau den Geliebten sprechen: Sie solle umkehren von ihrem Plug. In änigmatischen Worten scheint der Geliebte sich als einen liebeswunden Hirsch, die Frau aber als über ihm flatternde Taube zu bezeichnen. Ihr ekstatischer Flügelschlag fächelt ihm Kühlung zu.

Würden wir diese Strophen ins Griechische zurückübersetzen, dann stießen wir mindestens auf drei Schlüsselworte aus der plotinischen Beschreibung der θέα, der ekstatischen Schau: παρυοσία = presencia (>Anwesenheit<, >Gegenwart<); Έζαίφνης = de repente (>plötzlich<, >mit einem Schlag<); φαίνεσθαι = asomar (>erscheinen<, >sich oben zeigen<). In der Schau wird Plotin zufolge die Seele emporgerissen, und sie sieht plötzlich alles in einem hellerstrahlenden Licht. Darin aber erscheint ihr das Eine oder der Gott in seiner unmittelbaren Präsenz – und zwar so, dass sie im Licht der Schau eins mit dem Geschauten wird.22 In der Lichterscheinung ist also das Moment der differenzlosen Schau und der Gegenwart miteinander verbunden. Um zur Schau zu gelangen, die vollkommen bild- und gestaltlos ist, darf die Seele ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Schönheit des Körperlichen und Stofflichen richten. Darum heißt es bei Plotin:23

vertaling en tekst: zie noot 23

Plotins drohender Hinweis auf den Mythos vom Narziss, der sich an das είδωλον seines Spiegelbilds verlor, weil er dieses irrtümlich für das άληθινόν, für das wahrhafte Urbild, hielt, ist aufschlussreich genug für die Interpretation der Quellenszene bei Johannes vom Kreuz. Auch dort geht es offenkundig um das Thema der ekstatischen Schau im έζαίφνης, wie die Zeitangabe de repente (>plötzlich<) ausdrücklich zu erkennen gibt. Die Sprecherin ersehnt die Erscheinung des Geliebten in seiner Präsenz. Gleichwohl kommt diese Präsenz nur in einem Spiegelbild zur Erscheinung. Mehr noch: Im vorausgegangenen Vers – Sino con la presencia y la figura (>es sei denn durch die Gegenwart und das Angesicht<) – hatte sich bereits die Anwesenheit des Antlitzes angekündigt, und doch ist das Lexem figura doppeldeutig, Es kann das >Gesicht< des Geliebten meinen und metonymisch dazu seine Gegenwart bezeichnen; aber es kann ebensogut die >Figur< im Sinne des typos, des >Abbilds< oder >Abdrucks<, bedeuten. Einzig und allein diese zweite Bedeutung lost der Fortgang des Textes ein, wo sich die figura ironischerweise eben nicht als ein prasentes Angesicht, sondern als dessen Spiegelbild zu lesen gibt. Ja, die figura nimmt sogar eine Art von grobstofflicher >Gestalt< an, wird gewissermassen zu einer μορφη| (>Form<), sobald es heisst, sie solle sich an der Wasseroberfläche >herausbilden<: si… formases de repente – »wenn du plötzlich formen  würdest«.

Die figura des Geliebten ist ununterscheidbar geworden von jenem είδωλον, vor dem Plotin warnte, weil es den Narziss ins Verderben stürzte. Die Fügung la presencia y la figura erweist sich demzufolge nicht als ein έν διά δοίν, wie wir anfangs naiv angenommen hatten, sondern als ein Oxymoron. Aber diese schwer vorstellbare Paradoxie von Präsenz und Figur gilt es auszuhalten. Denn die Quellenszene des Cántico espiritual gibt gerade die Möglichkeit einer praesentia cum figura zu denken auf. Bei Florin war die Präsenz der Erscheinung durch die unmittelbare Lichtschau verbürgt worden. Bei Johannes vom Kreuz hingegen soll sich die Präsenz nicht in der Differenzlosigkeit der Schau, sondern gerade in der Gebrochenheit des Spiegelbildes bekunden. Unmittelbarkeit der Präsenz und Vermittlung der Figur werden miteinander verschränkt, und gleichzeitig wird das ganze Pathos des plotinischen έζαίφνης bewahrt und fortgeschrieben. 

Johannes vom Kreuz knüpft in seiner Modellierung der plötzlichen Erscheinung zweifellos an die areopagitische Tradition an. In seinem dritten Brief an den Mönch Gaius behandelt auch Dionysius das έζαίφνης am Beispiel der Erscheinung des Gottmenschen. Im Gegensatz zu Plotin erfolgt bei Dionysius die Epiphanie göttlicher Präsenz nicht im hellen Licht der Schau, sondern umgekehrt in der κρυφιότης, in der Verborgenheit.24 Wenn und wo Gott erscheint – beispielsweise dem Mose in der Wolke auf dem Berg -, ist es in der Dunkelheit seiner Verhüllung, und nur unter der Figur der Verborgenheit zeigt er seine Präsenz. Diese areopagitische Variante der Epiphanie inszeniert Johannes vom Kreuz in seiner Ausgestaltung der Quellenszene. Das helle Spiegelbild des Geliebten, das sich auf der silberklaren Wasseroberfläche abzeichnet, ist selbst figura einer solchen Erscheinung. Es bringt die Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erschienenen nicht zum Verschwinden, sondern es macht sie erst sichtbar. Wie schon zuvor im Gedicht der Teresa, so sind wir jetzt auch im Cántico espiritual auf die semiotische Differenz zurückgeworfen worden. Unverhofft tritt sie an jener Kategorie des platonischen Denkens in Erscheinung, die Platon und Plotin als eine differenzlose Unmittelbarkeit ohne Dazwischen definiert hatten, am έζαίφνης der ekstatischen Schau. 

IV. Rückkehr in Platons Höhle

Da aller guten Dinge drei sind – durchaus auch bei manchen Platonikern – möchte ich als ein letztes Beispiel ein weiteres Gedicht des Johannes vom Kreuz knapp präsentieren. Es ist die Llama de amor viva. (>Lebendige Liebesflamme<), das späteste Werk des Autors. Auch hier spricht eine Frau zum Geliebten oder allegorisch die Seele zu Gott. Das Paar hat sich zu einem zärtlichen Stelldichein getroffen, bei dem die Sprecherin auf ihren drängenden Wunsch hin vom Liebhaber entjungfert wird. Den Liebesakt selbst begleitet die Rede der Frau. Nachdem ein cauterio suave, ein >sanftes Brenneisen<, die Geliebte zugleich lustvoll versehrt und von ihrem Liebesleid geheilt hat, fahrt sie in der dritten Strophe mit einem Ausruf fort:25


  ¡O lámparas de fuego!

  en cuyos resplandores

las profundas cavernas del sentido

  que estava oscuro y ciego

  con extraños primores

calor y luz dan junto a su querido.


  [Oh Feuerlampen,

  in deren Widerschein

die tiefen Höhlen der Sinnlichkeit,

  die dunkel und blind war,

  dank fremdartiger Pracht

mit ihrem Geliebten vereint Warme und Licht geben.]


Die Sprecherin legt in diesen Versen dar, wie ihr Körper im Zusammensein mit dem Geliebten zu einem ihr bislang unbekannten Sinnesgenuss erweckt wurde. Das Gesagte kann auf zwei Ebenen verstanden werden: Hier ist einerseits die erotische Initiation mit dem Erlebnis sinnlicher Lust beschrieben. Andererseits steht diese Lust allegorisch für jene besondere Körpererfahrung, die dem beschaulichen Menschen am Ende seines ascetischen Weges zuteil wird. Es kommt dann, wie Johannes vom Kreuz in seinen Prosakommentaren ausführt, dank der mystischen Erleuchtung zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des sinnlichen Empfindens überhaupt. Der Körper, der für Gott völlig leer geworden ist, beginnt nämlich, Gott auf eine lustvolle Art im Medium der eigenen Sinne zu verspüren und zu verkosten.

Die eindrucksvolle Bildlichkeit der Strophe will folgendes besagen: Der Körper und seine Sinne waren wie dunkel und blind. Nun wurden sie entzündet und erstrahlen in einem für sie ungewohnten Licht. Nichtsdestoweniger findet die imaginierte Szene nicht an einem hellen, lichten On statt, sondern in einer Höhle. Das geschaute Licht ist darum auch nicht das Licht der Sonne, sondern das von lámparcis de fuego, von >Feuerlampen<, welche dem Hohenlied zufolge allein die Liebe zu entzünden vermag. In der traditionellen Fassung der Vulgata, die im Gedicht zitiert ist, heißt es: »Lampades eius lampades ignis atque flammarum. « – >Ihre Leuchter sind Leuchter des Feuers und der Flammen. <26 Der Begriff des Leuchters verweist nicht nur auf einen biblischen, sondern auch auf einen neuplatonischen Kontext. Im sechsten Buch seiner Theologia Platonica, rekapituliert Ficino Platons Höhlengleichnis, wobei sich Übersetzung, Kommentar und Interpretation vermischen. Platon hatte das Licht, welches die Höhlenbewohner sehen können, folgendermassen charakterisiert: »φώς δέ αύτοίς πυρος άνωθεν και πόρρωθεν καόμενον όπιθεν αύτων« – >Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt.<27 Ficino übersetzt diese Stelle folgendermassen: »Post tergum vero superne lampas accensa sit.« – >Hinter ihrem Rücken aber sei oben ein Leuchter entzündet.<28 Wo Platon ein Feuer hatte brennen lassen, da entzündet Ficino eine Fackel oder eine Lampe. Dies entspricht ganz auffällig der Möblierung der Höhle bei Johannes vom Kreuz. Es gibt noch einige weitere Anklänge. Offenbar kann die dritte Strophe der Llama, de amor viva als eine Überschreibung von Ficinos Version des platonischen Höhlengleichnisses gelesen werden. Wie zu erwarten war, ist die Bezugnahme bei Johannes vom Kreuz nicht unkritisch. Platon und erst recht Ficino konzipieren das Höhlengleichnis als Lehrstück eines Aufstiegs aus der Dunkelheit zum Licht, aus der sinnlichen in die intelligible Welt. Bei Johannes hingegen wird die erleuchtete Dunkelheit der Höhle enthusiastisch gefeiert: Die Sprecherin ist somit jenen Menschen vergleichbar, welche die Höhle nicht verlassen können oder gar wieder in sie zurückkehren. Allerdings gewahrt die Geliebte dort etwas, was in Platons Höhle noch nicht geboten war. Das Spiel der Schatten an der Höhlenwand, das heißt die ganze sinnenhafte Welt der Körper, wird von der Gegenwart des Geliebten erleuchtet and reflektiert dessen Licht. Aus dem Schattenspiel ist ein flimmernder Bildschirm geworden.

Damit ist zum drittenmal ein überkommenes platonisches Schema in der mystischen Dichtung verkehrt worden. Statt des Aufstiegs wird der Abstieg, statt der Sonne die Höhle, statt der Geistigkeit die Sinnlichkeit valorisiert. Das klingt zunächst wie die Verherrlichung einer chthonischen Unterwelt, und es erinnert verblüffend an den Park von Bomarzo nahe Orvieto, den der Herzog Vicino Orsini um die Mitte des 16.Jahrhundens an seiner Villa anlegen ließ. Dort findet sich ein Höllenrachen, der Zugang zu einer Grotte gewahrt. In Abwandlung von Dantes berühmtem Vers aus dem Inferno steht über dem Höllentor zur Lustgrotte von Bomarzo geschrieben: »Lasciate ogni pensiero, voi ch’entrate.«29 – >Lasst alles Denken fahren, die ihr eintretet!< In Bomarzo scheint die dunkle Höhle begriffen zu sein als der schlechthinnige Gegensatz zum Denken und zum Geistigen, als ein reiner Ausdruck der Sinnlichkeit, und diese simple Umkehrung der platonischen Rangordnung wird dort gefeiert. Nicht so bei Johannes vom Kreuz: Der Ausruf der Sprecherin ist kein Lobpreis der dunklen, sondern gerade der erleuchteten Höhle. Das Gedicht illuminiert förmlich die Höhle der Sinne – dank den Reflexen eines Lichts, das gegenwärtig ist, dessen Quelle aber unsichtbar bleibt. Die Iámparas de fuego (>Feuerlampen<) und die resplandores (>Widerschein<) sind ein Abglanz dieses Lichts, sie sind aber nicht dessen Ursprung selbst. Damit wird die platonische Opposition von Licht und Dunkelheit, die das Höhlengleichnis strukturiert hatte, dekonstruiert – und zwar nach der Seite der Dunkelheit hin. Die Höhle ist far Platon der Raum der οκιαί, der >Schattenrisse<, oder der simulacra, wie Ficino übersetzt. Aber diese Abbilder werden bei Johannes vom Kreuz ihrerseits zu Spendern des Lichts: calor y luz dan junto a su querido – >Wärme and Licht geben sie mit ihrem Liebsten vereint<.

Auch die erleuchtete Höhle der Llama de amor viva können wir lesen als die Allegorie einer differentiellen Abbildhaftigkeit. Wo Platon und Ficino den Aufstieg zum selbstidentischen Licht der Sonne propagieren, da steigt unser Gedicht wieder in die Höhle hinab und starrt wie gebannt auf das Flimmern eines Bildschirms. Dort zeichnen sich είδωλα ab, die weder dunkel sind, noch aus sich heraus leuchten: An ihnen kommt das differente Licht eines Andern zur Erscheinung – ein unvergleichliches Schauspiel, das manche offenbar nicht missen wollen. Der Ort der hier besprochenen mystischen Gedichte läßt sich vielleicht durch eine Blickrichtung bestimmen. Sie schauen allesamt » Έις τό καταντικρύ αύτων τού απηλαίου 30 – »in adversam partem speluncae«31 – >auf die entgegengesetzte Wand von Platons Höhle<.

V. Platonismus in Literatur

Die Kapitelüberschrift Platonismus in Literatur überrascht aus der Rückschau auf eine lange Geschichte weniger, als es die Kritik des Sokrates an den Dichtern im zehnten Buch der Politeia hatte erwarten lassen. Sokrates erinnert dort an die παλαιά διαφορά die alte Differenz, die zwischen Philosophie und Dichtkunst walte, and ebendarum solle die Poesie in einen idealen Staat gar nicht aufgenommen werden. Möglicherweise hatte Sokrates gute Gründe für seine Haltung. Ja, vielleicht ist überhaupt das platonische Verdikt gegen Dichtung und Literatur nicht allein der selbstlosen Liebe zur Wahrheit entsprungen, sondern auch dem Konkurrenzneid einer Philosophenschule, die es selbst wie keine andere verstand, sich die Rede des Mythos und der Poesie anzueignen, und die darum die Dichter der Zunft als unliebsame Rivalen auszuschalten suchte. Was immer die wahren Motive der Philosophen für einen solchen Ausschluss gewesen sein mogen: die Dichter selbst haben dem Ausweisungsdekret der Philosophen oft genug nicht Folge geleistet und sich gerade von der Tradition des platonischen Denkens inspirieren lassen. So haben die Dichter ironischerweise jener Schule am meisten zu verdanken, die am strengsten über sie geurteilt hat.  

Trotz aller Wahlverwandtschaft hat die oben durchgeführte  Textinterpretation die διαφορά zwischen Philosophie und Poesie erneut zum Vorschein gebracht. Unsere Dichter übernahmen die  verführerischen Kategorien der Philosophie, aber sie arbeiteten sie auch ab und transformierten sie beinahe bis zur Unkenntlichkeit. Wir haben diese Arbeit der Literatur an der Philosophie mit dem Begriff der Dekonstruktion gefasst. Dekonstruktion meinte hier eine Interaktion, welche die διαφορά, die Differenz zwischen beiden, hervortreibt und wahrnehmbar macht. Dekonstruktion erklärt aber nicht auch schon das Verhältnis der beiden zueinander, entspringt sie ihm doch erst. So stellt sich die Frage nach dem Zueinander mit neuer Dringlichkeit.

Das Verhältnis von Philosophie und Literatur wurde mitunter der Hermeneutik eines Gesprächs überantwortet und gemäß den »Modalitäten von Frage und Antwort, Problem und Losung« bedacht. 33 Die Literatur gebe Antworten auf Fragen, die von den Sinnsystemen einer Epoche, etwa von der Philosophie, unzureichend oder gar nicht gelöst worden seien, so W. Iser. 34 Die Literatur überführe vorgebliche Antworten eines Diskurses, beispielsweise des philosophischen, wieder in offene Frage, so R. Warning. 35 Beide Auffassungen sind gewiss berechtigt, und doch bestimmen sie das Verhältnis der Literatur zur Philosophie einseitig: Bei Iser bringt die Literatur einen Dialog durch ihre Antwort zum Abschluss: sie behalt so das letzte Wort. Bei Warning eröffnet die Literatur durch ihre Frage einen Dialog: sie spricht damit ein erstes Wort und bringt ein Gespräch in Gang, in dem wieder zur Disposition gestellt wird, was vorausgegangen ist. In beiden Fällen wird der Literatur eine dominante Gesprächsrolle zugewiesen, und das Widerlager der Philosophie zur Literatur erscheint in gewisser Weise entbehrlich – wenigstens zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich dann, wenn die Literatur erst einmal ihre Antwort gegeben oder ihre Frage formuliert hat. Beide Ansätze sind starke Theorien, und es sind auf ihre Art antihegelianische Theorien vom Ende der Philosophie und ihrer Aufhebung in der Literatur. Sie sind darum von eingeschränktem Erklärungswert für eine Konstellation wie die hier beschriebene, wo sich philosophische und literarische Texte über extrem lange Zeitraume hinweg aufeinander beziehen. Seit über zweijahrtausenden gibt es die platonische Philosophie und gibt es die Literatur, die sich an ihr abarbeitet – denken. wir nur für unser 20, Jahrhundert an Jorge Luis Barges. Aber trotz alledem scheint die Literatur weder die endgültige Antwort auf die aufgeworfenen Fragen gefunden noch die endgültige Frage gestellt zu haben, mit welcher die Geltungsansprüche der philosophischen Rede als ein für allemal erledigt anzusehen waren. Die Auseinandersetzung geht (vielleicht unabschließbar) weiter.

So möchte ich zu guter Letzt vorschlagen, mit Hilfe einer schwachen Theorie das Verhältnis von Philosophie und Literatur zu bestimmen – und zwar als ein parasitäres, wie es M. Serres zufolge sehr vielen Kommunikationssituationen zugrunde liegt. 36 Ein Parasit lebt von seinem Wirt. Er lebt oft auch bei ihm oder in seinem Hause. In diesem Sinne wäre die Philosophie eine Parasitin in oder an der Literatur. Jedoch mochte ich dafür plädieren, die umgekehrte Relation ebenso – und vielleicht noch entschiedener – in Betracht zu ziehen: Literatur als ein Organismus, der von oder an der Philosophie parasitiert und darum ohne sie nicht zu denken ist. Nicht alle Parasiten sind für ihre Wirte schädlich, manche erweisen sich sogar als ausgesprochen nützlich. Es gibt Symbiosen, von denen beide Akteure profitieren. Das langwährende Zusammenleben des Platonismus mit der Literatur scheint dafür zu sprechen, dass es sich in diesem Fall um keinen lebensbedrohlichen,  sondern um einen lebensnotwendigen Schmarotzer handeln konnte, wer hier auch immer der Parasit und wer hier auch immer der Wirt sein mag.

Der Parasit und sein Wirt leben nicht in einem luftleeren Raum – ebensowenig wie das Urbild und das Abbild, nach deren Modell Platon das Verhältnis der Philosophie zur Dichtung bestimmt hatte. Beide Paare benötigen einen ihnen zukommenden Ort. Platon bezeichnet diesen im Timaios als κωρα, als Raum, worin sich das Urbild dem Abbild einprägen kann. 37 In der biologischen Terminologie hingegen nennt man den Ort, an dem der Parasit und sein Wirt leben, eine ökologische Nische. Sowohl die ökologische Nische als auch die platonische κωρα gehören zu keinem der beiden Elemente, die in ihnen wirken, sondern sie umfassen sie und bieten erst den Raum für deren Spiel und Widerstreit. Läßt sich aber dann auch eine κωρα, eine ökologische Nische benennen, in der Abbild und Urbild, Parasit und Wirt, Literatur und Platonismus, die unentwegt voneinander und gegeneinander leben, doch  miteinander zu Hause sind? Vielleicht leben beide Organismen von einer gleichen Faszination und von einem gleichen Pathos: von der Faszination des Lichts und vom Pathos der Wahrheit. ‘Wo aber zeigt sich Wahrheit: in der Schau der Erkenntnis oder im Durchschauen Durch-Schauen, Durch-Zappen der Trugbilder? Und wo strahlt Licht auf: in der hellen Sonne der Mittagsstunde oder am flackernden Bildschirm der nächtlichen Höhle? 

noten: 

1 Platonis convivium 8 sq., 180 c-182 a.

2 Ich verwende im folgenden die spanischen Ausgaben: Santa Teresa de Jesus, Obras completas, eds. Efrén de la Madre de Dios / O. Steggink, 6  edition, Madrid 1979; San Juan de la Cruz, Obras completas, ed. L. Ruano, 11 edicion, Madrid 1982. Hingewiesen sei auf die deutsche Übersetzung beider Gesamtwerke im Küsel-Verlag München durch  Aloysius Alkhofer / Ambrosius Hofmeister – in sechs Bänden für Teresa und in fünf Banden für Johannes vom Kreuz (hiervon Nachdruck durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt). Schließlich gibt es einen hilfreichen Band im Johannes-Verlag, der die Gedichte zweisprachig bietet: Johannes vom Kreuz, Dunkle Nacht und Gedichte, trad. H.U.v. Balthasar / C. Capol, 3. Auflage, Einsiedeln 1983.

3 Vgl. A. A. Parker, The Philosophy of Love in Spanish Literature. 1480-1680, ed. T. O’Reilly, Edinburgh 1985.

4 Vgl. M. Asín Palacios, El Islam cristianizado. Estudio del >sufismo< a través de las obras de Abenarabí de Murcia (1931), 2a edicion, Madrid 1981; L. López Baralt; San Juan de la Cruz y el Islam. Estudio sobre las filiaciones semiticas de su literatura mistica, México 1985; C. Swietlicki, Spanish Christian Cabbala. The Works of Luis de León, Santa Teresa de Jesús and San Juan de la Cruz, Columbia, Missouri 1986.

5 Zu erwähnen sind an erster Stelle der spanische Historiker Américo Castro und der französische Hispanist Marcel Bataillon.

6 J. Baruzi, Saint Jean de la Croix et Ie Problème de l’expérience mystique (1924), 2° édition revue et augmentée d’une préface nouvelle, Paris 1931, p. 708.

7 Baruzi, op. cit. p. 328. >Ein mystisches Symbol, dem es nicht gelingt, uns sogar noch im Rhythmus seiner Bilder die Tiefe der Erfahrung spüren zu lassen, ist nur ein Pseudo-Symbol. Das wahre Symbol haftet an der Erfahrung. Es ist nicht die Figur einer Erfahrung.< (Übersetzung B. T.).

8 Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce (1941/42, Publ. 1950), 2. verbesserte Auflage, Louvain/Freiburg im Breisgau 1954, pp. 32-36.

9 VgL E. Stein, Wege der Gotteserkenntnis. Dionysius der Areopagit und seine symbolische Theologie (1941), eds. W. Herbstrith / V.E. Schmitt, München 1979.

10 Vgl.  W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur Neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1985

11 Vgl. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980, pp. 131-143.

12 J. Derrida, Comment ne pas parler. Dénégations (1986), in: ders., Psyche. Inventions de l’autre, Paris 1987, pp. 535-595. Derrida klassifiziert die Paradigmen, die er behandelt, als griechisch (Platon), christlich (Dionysius und Meister Eckhart), weder griechisch noch christlich (Heidegger). Seine eigene Position beschreibt er als dazu allemal exzentrisch, nämlich als jüdisch und arabisch (cf. op. cit., p. 562).

I3 Vgl. J.-L. Marion, Dieu sans l’être (1982), Paris 1991.

14 Sta. Teresa, Alma buscarte has en mí…, op. cit., pp. 503 ff., Übersetzung B. T. In Anlehnung an die übliche Schreibweise in den Manuskripten des 16 Jahrhunderts verzichte ich bei der Wiedergabe dieses und der folgenden Gedichte weitgehend auf eine Interpunktion. Die daraus entstehenden Doppeldeutigkeiten sind von den mystischen Autoren bewusst intendiert, können aber in der Übersetzung nicht nachgebildet werden.

15 Vgl. Ficinus de amore 11,8, in: Marsile Ficin, Commentaire sur Ie Banquet de Platon, ed. R. Marcel, Paris 1956, pp. 155-158.

16 Vgl. Baldassare Castiglione, Il libro del Cortegiano IV, 70, ed. E. Bonora, Milano 1972, pp. 348 ff.

17 Leone Ebreo, Dialoghi d’Amore I, ed. S. Caramella, Bari 1929, p. 50. >Die eigentliche Definition der vollkommenen Liebe zwischen Mann und Frau ist die Verwandlung des Liebenden in den Geliebten mit dem Verlangen, dass sich der Geliebte in den Liebenden verwandeln möge. Und wenn eine solche Liebe in jeder der Parteien gleich stark ist, dann definiert man sie als Verwandlung des einen Liebenden in den andern.< (Übersetzung B. T.).

18 Vgl. Platonis Timaeus 27 d-29 c.

19 Vgl. Boethius de consolatione philosophiae III, metrum 9.

20 Vgl. Dionysius Areopagita de divinis nominibus IV, 11-14.

21 S. Juan de la Cruz, Cántico espiritual. (Versión B. Redacción de Jaén), vv. 51-65, op. cit., pp. 568 ff., Übersetzung B. T.

22 Vgl. Plotini enneades V, 5,8; VI,7,34; VI1,7,36.

23 Enneades 1,6, 8,37-38, in: Plotin, Das Schöne, griech.-dt., ed. R. Harder, Hamburg 1976, pp. 22 f. >Denn wenn man Schönheit an Leibern erblickt, so darf man ja nicht sich ihr nähern, man muss erkennen, dass sie nur Abbild, Abdruck, Schatten ist, und fliehen zu Jenem, von dem sie das Abbild ist. Denn wenn einer zu ihr eilen wollte und sie ergreifen, als sei sie ein Wirkliches, so geht es ihm wie jenem – irgendeine Sage, dünkt mich, deutet es geheimnisvoll an: der wollte ein schönes Abbild, das auf dem Wasser schwebte, greifen, stürzte aber in die Tiefe der Flut und ward nicht mehr gesehen.<

24 Vgl. Dionysi epistula III.

25 S. Juan de la. Cruz., Llama de amor viva, vv. 15-18, op. cit., p. 40, Übersetzung B. T.

26 Canticum iuxta Vulgatam VIll, 6, Übersetzung B. T.

27 Platonis res publica VII, 514 b, in: Platon, Werke in acht Bänden, ed. E. Chambry, trad. F. Schleiermacher, VIII, Darmstadt 1971, p. 554.

28 Ficini theologia Platonica VI,2, in: Ficin, Théologie platonicienne de l’immortalité des âmes, ed. Marcel, Paris 1964, 1. 1, p. 232, Übersetzung B. T.

29 Bei Dante lautet der Vers bekanntlich: »Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate.« – >Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet!< (Dante, Inferno 111,9).

30 Res publica VII, 515 a, op. cit., p. 556.

31 Theologia Platonica VI, 2, op. cit., p. 232.

32 Cf. res publics X, 607 b, op. cit., p. 830.

33 Vgl. H. R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1970), in: R. Warning (ed.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis,München 1975, p. 151.

34 Vgl. W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells, in: Rezeptionsästhetik, pp. 304-306.

35 Vgl. R. Warning, Gespräch und Aufrichtigkeit. Repräsentierendes und historisches Bewusstsein bei Stendhal, in: ders. / K. Stierle (ed<. ), Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik XI), München 1983, pp. 425-430.

36 Vgl. M. Serres, Le Parasite, Paris 1980.

37 Cf Timaeus 52 a-b. Vgl. hierzu auch: J. Derrida, Comment ne pas parler, op. cit., pp. 566-569.


Bernhard Teuber

Zur Frage des Neuplatonismus in der Dichtung der spanischen Mystik

In: 

Schildknecht, Christiane, Teichert, Dieter (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt am Main 1996, (Suhrkamp), p. 230-2